Mit der Eisenbahn in die Freiheit – Die Geschichte meines Großvaters

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Als ich heuer im Juni im Rahmen eines Jobprojekts gebeten wurde, über die Geschichte meines Großvaters zu referieren, wurde meine Neugier auf dieses Kapitel meiner Familiengeschichte wieder geweckt. Es ist eine Geschichte über Flucht und Hoffnung – und über die Überwindung von Grenzen. 

Dieser Tage gehen Bilder aus dem Libanon um die Welt, wo Menschen auf die Straße gehen, in der Hoffnung auf eine bessere Wirtschaftslage und satt von Ideologie. Es sind Bilder von friedlich protestierten Bürgern und Bürgerinnen.

Ende Oktober 1956 gingen in Ungarn 200.000 Menschen auf die Straße, ebenso geprägt von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Das Ziel der Ungarn war es, einen Reformkurs herbeizuführen und frei von Repressalien oder gar Verfolgung zu leben. Die Antwort durch das Regime war sehr bald der Angriff auf die unbewaffneten Demonstranten, was wiederum zur Bewaffnung von Teilen der sich bald zur Revolution entwickelnden Bewegung führte.

Es waren Tage der Hoffnung, der Angst und schließlich der Niederlage. Und es waren Tage, in denen Menschen Grenzen überwanden und sich begegneten. Wie der burgenländische Autor Wolfgang Bachkönig berichtet, überschritten Ungarn die Grenze zu Österreich, um Freunde und Bekannte im benachbarten Burgenland zu treffen. Kulturell, übrigens auch kulinarisch, und von der Geschichte her, waren Ungarn und das Burgenland eng miteinander verbunden.

In dieser Zeit lebte die Familie meines Vaters in Sopron nahe der österreichischen Grenze. Mein Großvater Laszlo Pál war Eisenbahner, Triebwagenführer. Er arbeitete für das grenzüberschreitende Unternehmen Gysev, die Raaberbahn, die zwischen Ungarn und Österreich verkehrte und dies bis heute tut. So hatte er im Burgenland seine Frau kennengelernt, meine Großmutter Kristina Pál, geborene Hochleitner, die aus Neusiedl am See stammte. Sie zog zu ihm nach Ungarn und erlernte die Sprache, die auch zu ihrer wurde und die sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2009 pflegte.

Mein Großvater als Triebwagenführer und meine Großmutter als junge Frau

Mit den beiden Kindern lebte man in einer Wohnung nahe des Petöfiplatzes, der nach dem dortigen Theater benannt ist, in einem Haus mit großem Innenhof und Arkadengängen. Ich habe das Haus erstmals kurz nach der Wende in Osteuropa gesehen, als ich damals mit meiner Großmutter einen Ausflug nach Sopron unternahm. Und ich kann mich noch gut erinnern, wie in meiner Oma die alte Angst vor der Staatsicherheitspolizei hochkam, als wir bloß von einem Schaffner im Zug kontrolliert wurden.

Am Petöfiplatz

Mein Vater und mein Onkel als Kinder am Petöfiplatz in Sopron

Als die Niederschlagung des Aufstands durch die sowjetische Armee begann, löste dies eine Fluchtbewegung aus, die zur Massenflucht aus Ungarn werden sollte. Über 190.000 Menschen flüchteten zunächst nach Österreich, das vielfach nur als Transitland gesehen wurde. Auch die Familie meines Großvaters wurde letztlich in alle Welt verstreut. So wählte ein Teil der Familie Australien zur neuen Heimat und von dort wiederum ging ein Cousin meines Vaters nach Kanada.

Als ich im Juni dieses Jahres für ein Regionalprojekt über meinen Großvater sprach, lernte ich den burgenländischen Historiker Ludwig Zwickl kennen, der in seinem Buch über die Raaberbahn jene Ereignisse mit Datum und Details belegte, die ich aus den Erinnerungen meiner Großmutter und meines Vaters kenne.

Das Haus, in dem meine Familie lebte, heute

So sieht das Haus, in dem meine Familie bis Mitte der 1950er Jahre lebte, heute aus.

Als am 4. November 1956 einer der schlimmsten Angriffe der sowjetischen Armee auf Ungarn erfolgte, flüchtete mein Großvater Laszlo Pál als Triebwagenführer mit einem Zug, in dem sich Eisenbahner mit deren Familien sowie die eigene Familie befand, über die Grenze ins österreichische Wulkaprodersdorf.

Im Dezember 1956 ging mein Großvater alleine nach Ungarn zurück, suchte alle Habseligkeiten zusammen und bereitete seine zweite Flucht vor. Dabei täuschte er bewusst Teile der Bahnbehörde, sodass gar nicht erst der Verdacht einer Flucht aufkommen konnte. Und so rollte der Zug Richtung Freiheit. Ohne stehen zu bleiben, ließ er das Fahrzeug einfach über die Grenze fahren, ohne auf Schranken oder ähnliches zu achten. Wie Ludwig Zwickl recherchiert hat, hatte mein Großvater den Sonntag vor Ostern 1957 gewählt und die Uhrzeit 05.00 Uhr morgens, da da noch mit keinem Straßenverkehr an den Bahnschranken zu rechnen war. Ungebremst hatte er mit dieser Fahrt die von Menschen geschaffene Grenze durchbrochen, jene Grenze, die als Eiserner Vorhang Jahrzehnte Europa trennen sollte. Im burgenländischen Wulkaprodersdorf blieb der Zug schließlich stehen.

Mein Vater erzählt in diesem Zusammenhang, dass mein Großvater immer wieder von einem bestimmten Erlebnis gesprochen habe. Bei der Flucht wären ihm zwei junge Männer begegnet, die ihm, dem Triebwagenführer zugerufen hätten. Sie hätten gefragt, wohin er fahren würde, wahrscheinlich hatten sie ihn gekannt. Und er muss irgendetwas geantwortet haben, das ihnen eindeutig Auskunft gab, jedenfalls waren zwei junge Männer aufgesprungen und hätten in nur einem Augenblick über ihr Leben entschieden, nämlich den Weg der Flucht zu wählen.

Der Fluchtzug

Der “Zug in die Freiheit”

Mein Großvater erreichte seine Familie in Neusiedl am See. Die Familie meiner Mutter lebte in derselben Gasse wie die Familie meines Vaters. Und so wusste meine Großmutter mütterlicherseits wieder zu berichten, dass viele Menschen das Haus der Páls belagert hätten. Sie selbst, Maria Dittmar, habe dann gebeten, man möge die Menschen, die doch so viel schon mitgemacht hatten, endlich in Ruhe lassen.

Viele internationale Journalisten hatten, auch verständlich, Interesse an dieser Geschichte aus der Zeit des Kalten Kriegs und wollten den Mann, der mit der Eisenbahn geflüchtet war, befragen. Auch aus Angst vor Denunzianten oder Spitzeln gab mein Großvater niemals ein Interview.

Mein Großvater lebte bis zu seinem Tod in Neusiedl am See. Leicht war es sicher nicht. Ist es wohl nie, die Heimat zu verlassen, einen Neubeginn zu starten und gegen Sprachbarrieren anzukämpfen.

Mein Großvater Laszlo Pál war um vieles älter als meine Großmutter und ich hatte als Kind, auch weil er im Alter wieder mehr ins Ungarische verfiel (das ich leider nicht beherrsche!) wenig engen Kontakt zu ihm. Viel mehr erfuhr ich von meiner Großmutter, die offen und herzlich über alles erzählen konnte. Mein Großvater, das weiß ich aber, hatte einen grünen Daumen. Und er hat auch im Hausgarten der Familie mitgearbeitet.

Mein Großvater im Garten

Mein Großvater bei der Gartenarbeit

Als ich unlängst über den Wiener Heldenplatz spazierte, kam ich an einer Ausstellung vorbei, die über historische Momente berichtete. Da sah ich auch jenes berühmte Bild, das den damaligen österreichischen Außenminister Alois Mock mit seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn zeigt, wie sie den Stacheldraht an der österreichisch-ungarischen Grenze durchschneiden. Ich brauche das Bild nicht zu zeigen, die meisten, die meine Geschichte hier lesen, kennen es sicherlich. Und beim Betrachten dieses Fotos bekomme ich Gänsehaut, wegen dieses Moments, aber auch, weil schon wieder Stimmen in Europa laut werden, die Grenzen fordern, anstelle sie abzubauen, die Menschen voneinander trennen anstelle vereinen wollen… und wie dieses Bild so etwas Allgemeingültiges für sich hat, so verhält es sich auch mit der Geschichte meines Großvaters: Sie hat etwas Symbolisches an sich, wie auch die Geschichte der jungen Männer, die auf den Zug aufsprangen: Das Symbol des Menschen, der sich entscheidet, für sich und seine Familie ein besseres Leben zu wollen – und das sollte das Recht für jeden Menschen sein…

Übrigens habe ich mir zu dieser Reportage auch wieder ein Rezept überlegt, das auf beiden Seiten dieser “Grenze” Tradition hat – eine ungarisch-burgenländische Krautsuppe. Und nachdem ich mich, wie auch einige Menschen um mich, mit der veganen Küche beschäftige, habe ich diese Suppe rein vegan zubereitet.

Hier gibt es am Ende noch das Rezept und ganz am Ende zwei Buchtipps, für all jene, die sich mit der Geschichte des Ungarnaufstands und der Raaberbahn näher beschäftigen wollen.

Krautsuppe

Die vegane ungarisch-burgenländische Krautsuppe

Vegane ungarisch-burgenländische Krautsuppe:

Zutaten:

  • 70 dag Sauerkraut
  • Mind. 600-700 ml Gemüsefonds (2 Gemüsebrühewürfel)
  • 1 rote Zwiebel
  • etwas Olivenöl
  • Pfefferkörner
  • Rauchsalz
  • 3 Teelöffel Paprikapulver
  • getrockneter Majoran
  • Kümmel
  • vegane Creme fraiche / veganer Rahm
  • frischer Thymian

Zunächst die rote Zwiebel sehr fein hacken und in einer beschichteten Pfanne mit etwas Olivenöl und einem 3/4 Teelöffel Paprikapulver kurz anbraten.

Das Sauerkraut (am besten aus dem Holzfass!) auf einem Schneidbrett klein schneiden. Die leicht angerösteten Zwiebel in einen großen Suppentopf umfüllen, das Sauerkraut hinzufügen und mit dem Gemüsefonds aufgießen (Achtung: Das Sauerkraut “schluckt” viel Flüssigkeit!).

Die Masse aufk0chen lassen und dann auf mittlere Stufe reduzieren.

Meist ist das Sauerkraut aus dem Holzfass mit Pfefferkörnern und Kümmel gewürzt, ich empfehle aber, weitere Pfefferkörner und etwas guten Kümmel hinzuzufügen.

Während des Köchelns soll auch noch mehr Paprikapulver (siehe Zutaten) und getrockneter Majoran untergerührt werden. Das Rauchsalz (bitte nur Bio- und gute Qualität wählen!) ist die vegane Variante des Selchgeschmacks. Ich empfehle bei dieser Menge einen kleinen Teelöffel davon. Ist natürlich Geschmacksache.

Ebenso ist es Geschmacksache, wie dick oder wie dünn man die Suppe haben möchte. Daher bitte nach Geschmack entscheiden, wie viel Fonds man insgesamt aufgießt.

Die Suppe insgesamt eine gute Stunde köcheln lassen.

Schließlich die Suppe mit veganer Creme fraiche servieren! (Ich habe eine tolle Variante von “Dr. Oetker” (Unbezahlte Werbung) entdeckt, die zwar Kokosnussöl enthält, das ich nicht so sehr befürworte, aber an Rahm geschmacklich herankommt.)

Perfekt zur Suppe passen auch frischer Thymian und ein frisches Baguette!

Guten Appetit!

Und hier noch meine Buchtipps:

  • Ludwig Zwickl: Gysev, die Raaberbahn. Brücke zwischen Ost und West. Betriebsgeschichte der österrreichischen Linien (Korneuburg 2011)
  • Wolfgang Bachkönig: “Heimat, warum musste ich dich verlassen?”. Ungarnaufstand 1956. Zeitzeugen erzählen. (Munderfing 2017)

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