Dass die herkömmliche Milchproduktion mit furchtbarem Tierleid verbunden ist, wird immer mehr Menschen durch die Arbeit von Tierschutzorganisationen und Journalisten bewusst. Und doch geschieht noch zu wenig, um dem Leid der Milchkühe und ihrer Kälber ein Ende zu setzen. Karin Heymann hat sich mit einem ehrgeizigen Projekt im niederösterreichischen Bezirk Gänserndorf das Ziel gesetzt, ihren Beitrag zur Verbreitung einer muttergebundenen Kälberaufzucht zu leisten. Das Mutterglück der Tiere und das Aufwachsen der Jungen ohne sofortige Trennung ist Karin Hermann ein Herzensanliegen.
Ich weiß nicht mehr, wann ich begonnen habe, die herkömmliche Milchproduktion zu hinterfragen und nach Projekten wie jenem Karin Heymanns zu suchen. Den letzten Anstoß dazu gab die Diskussion über den Film „Cow“ der britischen Regisseurin Andrea Arnold, der auch bei der Viennale gezeigt wurde. Ein Film, der das Leid der Milchkühe zum Inhalt hat, jener Tiere, deren Milch in Wahrheit für deren Nachwuchs da ist. Dieser Milch bedient sich jedoch der Mensch in einer Art und Weise, die das Tier im Schmerz zurücklässt. Um nämlich die gewünschten Mengen an Milch zu gewinnen, werden die Kälber kurz nach der Geburt von ihren Müttern getrennt. Mutterkühe und Kälber schreien oft tagelang nach einander.
Die Auseinandersetzung mit dem Tierleid bedeutete für mich, entweder auf pflanzenbasierte Produkte umzusteigen oder, wenn die Wahl auf Kuhmilch fällt, dann jene zu wählen, die von Betrieben stammt, die einen anderen Weg gehen.
Als ich Ende September nach Gänserndorf fahre, um eines der wenigen dieser Projekte kennenzulernen, regnet es wie aus Eimern. Meine Interviewpartnerin hat mir zuvor den Tipp gegeben, auf jeden Fall mit Gummistiefeln anzureisen, denn an regnerischen Tagen wie diesem sei es sehr matschig auf dem Hof, den sie von einem alten Bauern übernommen hat.
So steige ich gut gerüstet und mit Kamera und Diktiergerät aus dem Auto und treffe Karin Heymann und deren Mann Josef inmitten der Arbeit an. Josef Heymann hat die Landwirtschaft von der Pike auf gelernt und betreibt eine Demeter-zertifizierte Bio-Hülsenfrüchteproduktion. Karin Heymann ist Quereinsteigerin in die Landwirtschaft und bringt vielleicht gerade deshalb die Geduld und einen frischen und notwendigen Enthusiasmus mit. Beide sind mit Herzen bei der Sache und tief überzeugt vom verantwortungsvollen Umgang mit der Natur, wie nach wenigen Minuten unseres Gesprächs klar wird.
Ohne Überzeugung und Liebe zu Natur und Tier, würde man ein solches Projekt wie jenes der Hermanns wohl nicht starten. Den Milchbetrieb, eine seltene Form der Landwirtschaft im Osten Österreichs, haben sie erst heuer übernommen. Der Tierbestand wurde dabei auf 11 Milchkühe zuzüglich einer Nachzucht von 18 Tieren reduziert. So wie auch Josefs Ackerbaubetrieb ist auch der Viehbetrieb Demeter-zertifiziert. Das Marchfeld, wo beide Betriebe liegen, gilt eigentlich als die Kornkammer Österreichs und daher hat ein Milchviehbetrieb hier Seltenheitscharakter.
Ich frage Karin, was sie bewogen hat, ein solches Projekt zu starten. Sie meint, sie habe immer schon sensibel auf Umwelt- und Tierschutzthemen reagiert und habe seit langem Organisationen, die sich dieser Inhalte annehmen, mit ihren Spenden unterstützt. So wie die Milchwirtschaft vielerorts agiere, würde das sie und ihren Mann abschrecken:
Da wird die Kuh wirklich nur als Arbeitstier gesehen. Es geht nur darum, wieviel Milch man aus dem Tier herausholen kann. Wir wollen sie nicht ausmergeln. Wir wollen sie so lange wie möglich behalten, denn sie sind auch Familienmitglieder. (…) Wenn man weiß, dass eine Kuh auf ihren Namen hört und dass sie da ist, wenn man sie ruft, weiß man auch, dass sie keine Nummer ist. Und in der Milchwirtschaft ist alles schon so hoch technisch. Da gibt es Melkroboter, Futterschieber… viele Kühe haben auch einen Transponder, ein Halsband, das Daten an einen Computer sendet…
Die Ursachen liegen in einem ausbeuterischen System einer von der Natur entkoppelten Landwirtschaft, die hochindustrialisiert agiert:
Es ist eine richtige Industrie, die schon bei der Kälberaufzucht beginnt. Was es da schon alles gibt: Vitamine, Präparate, Medikamente… und die Kälber kommen in Kälberiglus. Es geht dabei darum, dass die Kälber keinen Durchfall bekommen… Aber warum lässt man sie nicht einfach 3 Monate bei der Mutter? Auch unsere Kälber hatten Durchfall, aber es war egal, denn sie hatten die Muttermilch – die richtige Menge, wohltemperiert, zur richtigen Zeit.
Bei der herkömmlichen Milchwirtschaft werden die Kälber nach der Geburt von ihren Müttern getrennt und kommen eben oftmals in die angesprochenen Kälberiglus. Anstelle von Muttermilch werden sie mit Milch und Milchersatz aus Tränkeautomaten ernährt. Das verhindert nicht nur das Erlernen eines sozialen Verhaltens unter den Tieren sondern auch die Entwicklung eines gesunden Immunsystems. Eine muttergebundene Kälberaufzucht wäre also auch aus veterinärmedizinischer und damit verbundener ökonomischer Sicht erstrebenswert, einmal abgesehen vom ethischen Aspekt.
Karin Heymann setzt sich zum Ziel, die Kälber 6 Monate bei ihren Müttern zu lassen, sodass die Tiere glücklich und gesund aufwachsen können. Sie hat selbst schon jetzt eine enge Verbindung zu ihrer Herde. Sowohl den Heymanns als auch mir erschließt es sich nicht, wieso Menschen sehr wohl zu ihren Haustieren, zu ihren Hunden und Katzen, eine enge Verbindung aufbauen und sie als fühlende Wesen wahrnehmen können, und gleichzeitig dem Tierleid, das die Milch- und Fleischindustrie erzeugt, blind gegenüberstehen. Vielleicht liegt es gerade an dieser Industrialisierung und damit verbundenen Anonymisierung des Tieres. Das berühmte Schnitzel am Teller wird als Ware gesehen und dass dahinter Leben, Gefühle und oft Leid stehen, wird nicht wahrgenommen oder weggeblendet.
Während der Regen kontinuierlich prasselt, stehen wir an diesem Nachmittag im September im Kuhstall und sind schnell in ein Gespräch gekommen, das uns in gleicher Weise berührt. Karin und Josef Heymann, so erzählen sie emotional, wollen Transporte ihrer Tiere so gut es geht verhindern. Und das sagen sie, weil sie genau wissen, wovon sie reden. Sie kennen die Sensibilität der Kühe und die damit verbundene Angst vor Veränderung. Karin schildert, dass schon der Weg auf die Weide mit viel Aufregung für die Tiere verbunden ist. Josef berichtet von seinen Erlebnissen mit Tiertransporten und mit Angestellten von Schlachtbetrieben, die damit geprahlt hatten, wie viele Tiere sie an einem Morgen getötet hätten. Er selbst hat im Rahmen der landwirtschaftlichen Fachausbildung auch das Handwerk des Fleischhauers erlernt und kennt die Vorgänge genau. Und wenn ihm jemand berichtet, sehr viele Rinder in kürzester Zeit geschlachtet zu haben, dann weiß er aufgrund des Erlernten, dass die Tiere dann während des Schachtvorgangs nicht betäubt waren. Außerdem sei schon der Transport, auch wenn er von einem Bio-Betrieb erfolgt, zum Schlachthof ein grausames Erlebnis für die Tiere. Und das sei dann gesund?, fragt Karin. Fleisch, behaftet mit Angst- und Stresshormonen… verschleudert zu billigen Preisen?
Als ich das Tonband unseres Interviews abhöre, immer wieder vor- und zurückspiele, um alles zu erfassen, muss ich kurz innehalten und ich bemerke meinen Kater Zeus neben mir, wie er mich ansieht. Und bei dem Blick schließt sich der Kreis – Karin Heymann hat den Vergleich angestellt: so wie es unsere Katzen und Hunde belastet, unheimlich ängstigt und stresst, wenn wir mit ihnen zum Tierarzt gehen, so geht es auch den sogenannten Nutztieren, wenn sie in ein unbekanntes Ziel transportiert werden. Was maßen wir Menschen uns eigentlich an?, frage ich mich.
Karin und Josef Heymann wollen jedenfalls, wenn es einmal notwendig ist, die Tiere am Hof schlachten – das ist ihr erklärtes Ziel. Und die Milch auch ab Hof an jene, die es zu schätzen wissen, verkaufen. Dabei sind sie sicher auch im Vorteil gegenüber jenen Landwirten, die in Regionen leben, in der es „mehr Kühe als Leute“ gibt. Da ist der Druck auf den einzelnen Betrieb zu stark. Die Landwirte und Landwirtinnen sind dort oftmals von der Molkerei abhängig und kommen aus dem negativen Kreislauf, der seit Jahrzehnten besteht, kaum heraus. Insofern verstehen Karin und Josef Heymann auch, dass es oft keine Nachfolge für solche Betriebe gibt. Es ist schwere Arbeit, die nicht gut entlohnt wird. Viele Kinder aus landwirtschaftlichen Familien schreckt das ab.
Karin Heymann als Quereinsteigerin mit einem der wenigen Pilotprojekte in diesem Bereich ist sich der Aufgabe und des Reizes des Ganzen bewusst. Weil sie sich bewusst dafür entschieden hat und aus vollem Herzen bei der Sache ist, kann sie auch mit den nicht so angenehmen Situationen gut umgehen. So erzählt sie schmunzelnd, dass sie eigentlich ein Nachtmensch ist und dass sie sich wohl nie an das tägliche frühe Aufstehen gewöhnen wird. Wenn sie dann aber bei ihren Kühen im Stall ist, weiß sie, dass es die richtige Entscheidung war. Dazu kommt, dass sie in ihrem Leben auch im Ausland gearbeitet hat und ganz andere berufliche Situationen als die einer Bäuerin erlebt hat, sodass sie aus all diesen Erfahrungen und ihren Empfindungen heraus weiß, dass dieser körperlich zwar fordernde Beruf das Richtige für sie ist.
Und was wünscht sie sich aus diesem Engagement heraus von anderen?, frage ich Karin.
Es geht ihr um die Wertschätzung und das Setzen von Prioritäten.
Oft ist der Urlaub wichtiger. Es ist ein Verteilungsproblem, die Frage danach, wo ich mein Geld ausgebe. Und ich glaube, dass da die Lebensmittel viel zu wenig Priorität haben.
Und ihr Mann meint dazu, dass in Diskussionen um billig oder teuer oft hinkende Vergleiche herangezogen werden:
Was isst denn derjenige, der billig isst? (…) Viele Probleme kommen ja von der einseitigen Ernährung, zum Beispiel von zu viel Fleisch. (…) Es wird leider immer das teuerste Bio-Produkt, 5 Mal auf die Woche hochgerechnet, mit dem billigsten Produkt verglichen. Aber was kostet es, wenn man sich mit Gemüse ernährt? Wenn man zum Beispiel an Linsen denkt – was kostet denn ein halbes KIlo Linsen? (…)
Karin kommt in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Situation der Landwirte und Landwirtinnen zurück:
Ich habe den Eindruck, dass schon viele Milchviehhalter die Kälber lieber bei den Müttern lassen würden, aber dass die Angst vor dem Verdienstentgang einfach zu groß ist, weil die Kälber sehr viel Milch wegtrinken. Da sind wir wieder bei dem Thema, dass zu wenig für die Milch bezahlt wird und sie im Supermarkt viel zu billig verkauft wird.
Es wird kühl während unseres Interviews, doch wir könnten noch lange diskutieren. Wir begeben uns also in ein Café im Stadtzentrum und plaudern dort noch lange über all die angesprochenen gesellschaftlichen Aspekte und über Projekte, von denen wir glauben, dass sie zukunftsweisend sind. Oder über Aspekte des Klimawandels und ich höre, nicht zum ersten Mal, wie schlimm es um unsere Böden steht, da es kaum mehr geschlossene Kreisläufe gibt, die sich selbst regulieren würden. Eigentlich müssten wir die Struktur unserer Landwirtschaft grundlegend ändern, denke ich, während wir langsam aufbrechen…
Am Ende des Tages fahren wir noch zum eigentlichen Hof nach Dörfles, wo ich Kostproben der fantastischen Hülsenfrüchte der Heymanns erhalte. Hierher sollen auch die Kühe in Kürze kommen. Und als sie daran denkt, sagt Karin: „Es wird nicht mehr lange dauern. Dann sind wir soweit. Dann holen wir sie nach Hause.“ Sie spricht mit Liebe und Respekt von ihren Tieren, so, wie es eigentlich selbstverständlich sein sollte…
Fotocredit: Alle Karin Heymann; Foto “Blick” Steppe und Stadt