Katharina Graf-Janoska: Über das Gemeinsame zusammenfinden

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Als ich im Sommer dieses Jahres in einem Beitrag des Musikers Roman Grinberg von einer Gedenktafel für Opfer des Nationalsozialismus in meiner Heimatgemeinde Neusiedl am See las, löste das eine Welle an Denkanstößen aus und konfrontierte mich mit der Geschichte der Familie Janoska, die mich nicht nur zu interessieren und berühren begann, sondern die mich Gemeinsames entdecken und den Wunsch in mir wachsen ließ, die Autorin und Moderatorin Katharina Graf-Janoska kennenzulernen.

Manchmal ist die Welt klein und Begegnungen sind auf ergreifende Weise miteinander verbunden. In den letzten Jahren durfte ich immer wieder Roman Grinberg, einem begnadeten Vertreter der Jüdischen Musik, begegnen. Ich war überrascht, als ich in den Sozialen Medien las, dass er in meiner Heimatgemeinde Neusiedl am See an der Einweihung der Gedenktafel für Opfer des Nationalsozialismus teilnahm. Also erzählte ich meiner Mutter davon und von Grinbergs Musik. Und meine Mutter meinte dann ziemlich schnell: „Ein weiterer Musiker wird Ferry Janoska als Vertreter der Roma gewesen sein.“ Das ließ mich nachfragen, und ich erfuhr, dass die Janoskas geniale Musiker sind und der Vater jenes Ferry und Großvater meiner zukünftigen Interviewpartnerin meinen Eltern in so guter Erinnerung geblieben war, da er vor Jahrzehnten in einem Tanzlokal aufgetreten war, das meine Eltern gerne besuchten. Außerdem, so wusste meine Mutter, war Großvater Ferry Janoska auf mutige und riskante Weise aus der Tschechoslowakei geflüchtet – eine ähnliche Geschichte, wie auch wir sie durch die Flucht meines Großvaters aus Ungarn her kennen. Als ich dann im Weinwerk in Neusiedl am See das Buch „KriegsROMAn“ von Katharina Graf-Janoska entdeckte, konnte ich nicht mehr aufhören, dieser Geschichte weiter nachzugehen. 

 

Gedenktafel in Neusiedl am See

Der Festakt bei der Gedenkstätte im Neusiedler Kirchenpark (Fotocredit: Birgit Böhm-Ritter)

 

Kurz vor dem vierten Lockdown traf ich Katharina Graf-Janoska dann im Haus meiner Eltern in Neusiedl am See, unweit entfernt von deren eigenem Elternhaus. Katharina ist Jahrgang 1988 und unter anderem Moderatorin der Sendung „Servus, Szia, Zdravo, Del tuha“ bei ORF Burgenland, wo sie sich als Vertreterin der Volksgruppe der Roma und Romnija mit den unterschiedlichsten Themen befasst. Aber Moderieren ist nur eines ihrer Talente…

Geschichte und Erinnerung

Vor allem ist es das Schreiben, mit dem die Absolventin der Literaturwissenschaft und Philosophie die ihr am Herzen liegenden Themen vermitteln mag. Ihr Interesse für Literatur und Geschichte hat sie ihre Familiengeschichte eben im Werk „KriegsROMAn“ festhalten lassen. Und sie begründet das Interesse für Geschichte auch mit dem Zugang ihrer Familie zu „Geschichte“ und „Geschichten-Erzählen“.

Bei uns in der Familie gibt es grundsätzlich ein Interesse für Geschichte, und zwar im doppelten Sinne: Und zwar tatsächlich für das Historische (…) Das ist der eine Sinn von Geschichte. Und der andere Sinn ist das Geschichten-Erzählen. Es war in unserer Familie eine Tradition – auf beiden Seiten – dass man zusammengesessen ist und endlos lange Geschichten erzählt hat. Nicht in dem Sinne, dass man über Gott und die Welt diskutiert hat – auch das hat es gegeben – sondern in dem Sinne, dass man zusammen gekommen ist und Geschichten vom Opa erzählt hat. Er ist eben viel zu früh gestorben, im Jahr 1991 mit 55 Jahren. Und das hat bei vielen eine Lücke hinterlassen. Ich hatte immer das Gefühl, dass man versucht hat, diese Lücke mit diesen Geschichten zu füllen. Weil er gefehlt hat. Er war immer der Entertainer. (…) Jeder hat versucht, ihn aufleben zu lassen oder auch ihm einen Platz am Tisch zu geben, indem über ihn gesprochen wurde, sodass er doch irgendwie dabei war. (…) 

Großvater Ferry Janoska

Bei jenem Opa handelt es sich um Ferry Janoska, den meine Eltern von seinen Live-Auftritten her kannten. Er lebte in der damaligen Tschechoslowakei und konnte aufgrund seines Berufs das Land verlassen. Als er sich jedoch mit den Drohungen des kommunistischen Regimes konfrontiert sah, beschloss er die Flucht, ein riskantes Unterfangen, wie sie eine Flucht zu jeder Zeit darstellt. Mittels eines eigens umgebauten Autos konnte er seine Familie aus dem Land in die Freiheit schmuggeln. Wenn ich die Fotos von Zeitungsartikeln in Katharinas Buch betrachte, fühle ich mich auf unglaublich enge und berührende Weise an meine eigene Familiengeschichte erinnert. Im Falle Katharinas Familie versteckte der Großvater seine Liebsten in einem Auto, im Falle meiner Familie tat dies mein Großvater Laszlo Pál in einem entführten Zug, mit dem er über die Grenze aus Ungarn flüchtete. 

 

 

Großvater Ferry Janoska (Fotocredit: Katharina Graf-Janoska)

 

Katharinas Familiengeschichte könnte insgesamt widersprüchlicher und gleichzeitig auf ergreifende Weise verbundener nicht sein und sie zeigt die Zeitgeschichte Europas auf. Eine Geschichte, die sich zwischen Tirol und dem Burgenland eröffnet. Ihr Urgroßvater väterlicherseits, der Rom war, musste in Ungarn auf Seiten der Nationalsozialisten kämpfen, da dort auch Juden und Roma in den Krieg eingezogen wurden. Eine Waffe durften sie nicht tragen, an die Front wurden sie dennoch geschickt. Katharinas Urgroßvater geriet für sieben Jahre in ein russisches Arbeitslager, aus dem er schwer traumatisiert nach Hause kam. Auch ihr Großvater mütterlicherseits musste für die Nationalsozialisten in den Krieg gehen, als junger Soldat aus Tirol.

Menschen über einen emotionalen Weg erreichen

Als wir über Minderheiten und Vorurteile sprechen, kommt Katharina zum Schluss, dass Menschen über einen emotionalen Weg zusammenfinden können. Bei der Präsentation ihres Buches und bei Veranstaltungen über die Geschichte der burgenländischen Roma hat sie leider mehrfach schmerzlich erleben müssen, wie sie bei manchen Menschen scheiterte, wenn sie versuchte, Vorurteile zurecht wissenschaftlich zu widerlegen, weil die Menschen nicht zulassen wollten, dass ihnen die Wissenschaft ihre Denkweisen wiederlegte, da ihnen die eigene Meinung wichtiger war als jede Art von Wissenschaft.

Es war und ist ihr ein Anliegen, den Menschen mitzuteilen, dass man in Roma-Familien nicht anders lebt als in alle anderen Familien.

Bei uns ist es nicht anders als in anderen Familien. Bei uns gibt es kein Lagerfeuer und kein Wahrsagen (was auch immer die Menschen glauben, was in einer Roma-Familie passiert). Und es gibt auch keinen Unterschied zu meiner Tiroler Familie. 

Man müsse das Gemeinsame ansprechen, so Katharina Graf-Janoska. Und über das Gemeinsame zusammenfinden. 

Ich glaube, man kann Menschen immer nur von etwas überzeugen, wenn man ihnen aufzeigt, dass wir alle einander ähnlich sind. „Ich habe denselben Anspruch, ein Mensch zu sein, wie Du.“ (…) Wenn man zu etwas Anderem oder Fremden gemacht wird, dann wird man automatisch auch entmenschlicht. Und dann wird es schwierig, vom Gegenüber ernst genommen zu werden. Wenn man jedoch eine emotionale Basis schafft (…) und sagen kann: „Meinem Opa ist das passiert und deinem auch“ (…) Dann können wir uns auf Augenhöhe über ein Thema unterhalten.

Über diese Worte Katharinas habe ich in den letzten Tagen sehr viel nachgedacht, da sie auch meinem Fühlen und Denken entsprechen. Manchmal gelingt es und manchmal nicht. Und vor allem hat es mich beschäftigt, weil es manchmal nicht gelingt. Persönlich denke ich, dass man vielleicht wirklich den kleinsten gemeinsamen Nenner für einen Dialog suchen muss. Und nicht aufgeben darf, dass aber der Dialog unmöglich wird, wenn Grenzen überschritten werden, indem Menschen beleidigt oder eben gar entmenschlicht werden, wie auch meine Interviewpartnerin sagte. Letztlich bleibt die Suche nach dem Gemeinsamen aber die einzige Hoffnung. 

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Ich fragte Katharina weiter, ob sie denkt, dass wir uns als sogenannte „dritte Generation“ (seit der Zeit des Nationalsozialismus) leichter tun würden, in der Auseinandersetzung mit Themen der Zeitgeschichte. Sie meinte, es spiele eine Rolle, ob man jemanden in der Familie hat, der im Konzentrationslager gestorben oder von diesem zurückgekommen war und wie mit dem Trauma umgegangen wird. Nachdem es das Trauma des Konzentrationslagers in der Familie Janoska nicht gegeben hatte, fiel dieser Faktor weg. Allerdings waren ihr Vater und Großvater mit Vorurteilen und Beschimpfungen konfrontiert gewesen. Man hatte sie als „Zigeuner“ oder „Zigeunermusiker“ beschimpft, obwohl ihre Musik nicht einmal Roma-Musik war. Ihr Großvater war Berufsmusiker gewesen und ihr Vater hatte schon als Jugendlicher, als er mit 14 Jahren an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst angenommen wurde, beschlossen, Komponist zu werden. Die Vorurteile und schmerzvollen Auseinandersetzungen hatten, so Katharina Graf-Janoska, in ihrem Vater den Wunsch reifen lassen, sich etwas Neues aufzubauen und zu schaffen und nicht auf etwas reduziert zu werden, weil man negative Erfahrungen mit der Abstammung gemacht hatte. Er wollte nur mehr für seine Leistung anerkannt werden. In ihrer Generation gibt es nun wieder eine Rückwendung in dem Sinne, dass man darauf stolz ist, wer man ist. 

Wenn ich an meine eigene Familiengeschichte zurückdenke, dann wird mir bewusst, wie auch bei uns versucht wurde, eine Distanz zu jenen Aspekten, die mit Angst und Negativität besetzt waren, herzustellen, was sich im Nicht-Weitergeben der ungarischen Sprache manifestierte. Dazu kam, dass man bis zum Ende der 1980er Jahre nicht an eine Zeit glaubte, in der man unbeschwert über die Grenzen reisen kann. Heute fände ich es schön, hätte ich diese zweite Sprache in unserer Familie als Kind erlernen können. Und die Geschichte meines Großvaters mütterlicherseits gleicht ein bisschen, auf andere Art und Weise natürlich, jener des Tiroler Großvaters Katharinas. Als deutscher Soldat musste sich mein Großvater nach US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft erst in der Welt nach 1945 zurechtfinden und sich ein neues Leben aufbauen. In allen Biografien meiner Familie war Leistungsdenken und Erfolg ein wichtiges Thema, und das verbindet mich mit Katharinas Worten und zeigt mir zutiefst menschliche Gefühle und Gemeinsamkeiten auf. 

Vielleicht ist es wirklich die Aufgabe unserer Generation, uns diesen Themen zu stellen, eine Auseinandersetzung, die unseren Großeltern und Eltern verwehrt war. Und das tut eben Katharina Graf-Janoska auf sehr bewusste Weise. Sie ist eine Botschafterin ihrer Volksgruppe und der Vielfalt des Burgenlandes. 

Roma und Romnija im Burgenland

In diesem Zusammenhang erzählte mir Katharina auch, dass viele Leute wissen wollen, „woher sie eigentlich“ komme. Die Aussage, dass sie aus Neusiedl am See kommt und in Eisenstadt geboren wurde, reicht nicht. Die Leute seien dann immer irritiert. Auch bestünde in ihrer Familie manchmal eine Art falsche Dankbarkeit für freundliche Begegnungen. Man ist dankbar dafür, dass Menschen einem nicht rassistisch begegnen, was doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Daraus resultiert eine falsche Demut, aus einer Angst vor der Reaktion der Mehrheitsgesellschaft. 

Beinahe 90 Prozent der burgenländischen Roma und Romnija wurden in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet. Und noch immer weiß man sehr wenig über Roma im Burgenland. Katharina Graf-Janoska schmerzt es, dass ein Großteil der Menschen auch nicht weiß, dass es in vielen Ortschaften Roma gegeben hat und dass sie inmitten der Gesellschaft lebten, dass die Kinder in die Schulen gingen, dass sie ganz normale Berufe hatten, dass sie im Ersten Weltkrieg gekämpft oder dass sie die Landwirtschaft sehr lange am Leben erhalten hatten. Die Vorstellung gehe vor allem dahin, dass die Roma mit dem Wagen kamen und außerhalb der Orte lebten und im besten Falle, dass sie gute Musik machten. In den 1950er Jahren wurde dieses Bild durch die „Pusztaromantik“ befeuert. Schlagworte wie „Zigeunerschnitzel“ und „Teufelsgeiger“ waren Instrumente, um den Tourismus anzukurbeln. 

 

Gedenkstätte Lackenbach

Mahnmal für verfolgte und ermordete Roma und Romnija im burgenländischen Lackenbach (Fotocredit: Herbert Brettl)

Die Küche kennt keine Grenzen

In den letzten Jahren ist schon viel Aufklärungsarbeit geschehen und die Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Region im Jubiläumsjahr des Burgenlandes soll kein Schlusspunkt sein. Ein Weg, um auf interkulturelle Themen aufmerksam zu machen, kann die Kulinarik sein. Katharina erzählte, dass sie festgestellt hatte, dass die Küchen ihrer Großmütter – die Tirolerische sowie die Ungarische Küche – einander sogar sehr ähneln. Ihre Mutter habe immer versucht, eine Symbiose zwischen den beiden Küchen herzustellen und das sei auch ihr Kochstil. Übrigens stellt Katharina selbst hervorragende Süßigkeiten, wie Karamell Toffees oder weißen Nougat, her, die sie neben ihren Büchern am Markt der Erde in Parndorf anbietet. 

Katharina definiert sich als allererstes als Burgenländerin. Die traditionellen burgenländischen Speisen wie Sterz, habe sie aber erst spät kennengelernt. Von der Roma-Seite her war die Küche eher ungarisch geprägt: sehr fett, sehr würzig und sehr scharf. Als Klassiker galten Fischsuppe und Karpfen zu Weihnachten. Und zu weiteren festlichen Anlässen durfte es auch eine Gans sein. 

So wie auch ich denke, da ich mich viel mit israelisch-palästinensischen Friedens- und Kochprojekten befasst habe, dass man an einer gemeinsamen Tafel leichter zusammenfinden kann, so sieht das auch Katharina:

Die Küche kennt keine Grenzen. Gerade wenn man die burgenländische Küche hernimmt, mit all ihren Einflüssen. (…) Als ich eine Veranstaltung im Schloß Esterhazy moderierte, bei der es um Interkulturalität ging und um die Frage, wie man diese jungen Leuten anhand eines Textes vermitteln kann, brachte ich immer wieder auch Beispiele aus der Küche. Ich denke, das ist ein Zugang, den auch Kinder gut verstehen können: Dass man, wenn man zum Beispiel Pizza essen geht, auch Multikulturalität im Essen und auf der Speisekarte wiederfindet, und dass man dabei nichts Negatives empfindet, sondern im Gegenteil diese Multikulturalität als etwas Positives erlebt.

Wünsche für die Zukunft

Am Ende des Interviews fragte ich Katharina, was sie sich für die Zukunft des Burgenlandes wünsche:

Ich wünsche mir für das Burgenland ein stärkeres Bewusstsein. Dass es ein stärkeres Bewusstsein für die eigene Geschichte, die eigene Kultur und die eigene Identität gibt und dass dieses Bewusstsein auch viel besser kommuniziert und nach außen getragen wird. Es ist für mich so, dass Roma und Romnija nicht nur tatsächlich vom Nationalsozialismus ausgelöscht wurden, sondern auch von den nachkommenden Generationen aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht wurden. (…) Zurückgeblieben sind die Vorurteile, die die Literatur über Jahrhunderte in Wellen propagiert hat. Wenn man heute von Fake News spricht, so ist das in dem Bereich etwas, das schon seit Jahrhunderten passiert. Und nun sind wir an einem Punkt – das ist etwas, das meine Generation auch versucht – wo es um Rewriting History geht. (…) Wir sind nicht mehr an dem Punkt, an dem wir uns irgendetwas erstreiten sollten. Wir sind an einem Punkt, wo wir die Anerkennung einfordern, die uns 1993 versprochen worden ist. Und nicht, dass wir darum kämpfen müssen, dass die anderen nicht mehr „Zigeuner“ sagen. (…) Das wünsche ich mir für die nächsten Jahre, dass, wenn ich einmal Kinder habe, die alt genug sind, sich damit zu beschäftigen, das Wort „Zigeuner“ gar nicht mehr existiert. (…) Und das keiner mehr sagt: Wenn ihr das wollt, dann müsst ihr kämpfen.

 

Danke Katharina, für dieses Interview und dass ich dich kennenlernen durfte! Ich hoffe, dass noch viele weitere Begegnungen folgen! Diese Reportage ist meine persönliche Weihnachtsgeschichte, da sie Themen anspricht, die mir zutiefst am Herzen liegen, in einer Zeit, in der ich beim Schreiben den Atem anhalten musste – und weil sie mir zeitlos in ihrer Wichtigkeit scheint… 

 

Katharina Graf-Janoska

Fotocredits Katharina Graf-Janoska: Verena Hartmann 

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